Sonntag, 12. September 2010

Türkei: Referendum über Verfassungsänderung

"JA - NEIN"
Heute fand in der Türkei das langatmig diskutierte Referendum zur Verfassungsänderung statt. Ersten halbamtlichen Berichten zufolge stimmten ca. 58% für und ca. 42% gegen eine Verfassungsänderung. Die Wahlbeteiligung lag bei etwa 77%. Der Abstimmungsausgang wird als Erfolg der Regierung Erdoğan gewertet. Die Regierung hat nun die Möglichkeit die von der Militär-Junta (nach dem Putsch vom 12. September 1980) eingeführte Verfassung von 1982 in wichtigen Punkten zu ändern. 

Freilich hatten sich die demokratischen Gemüter in den Monaten zuvor erheblich erhitzt. Die Nein-Sager rekrutierten sich aus Beton-Ataturkisten (im Parlament vertreten durch die CHP/Republikanische Volkspartei) und völkischen Nationalisten (im Parlament vertreten durch die MHP/Partei der Nationalistischen Bewegung). Während die einen die Untergrabung säkularistischer "Errungenschaften" befürchten, wettern die anderen vor allem gegen eine angebliche Auflösung des (National-)Staats. Die Ja-Sager sind vor allem Anhänger der liberal-religiösen Regierungspartei (AKP) sowie vorwiegend säkularisierte aber auf individuelle Freiheiten pochende Postmodernisten. 

Wichtiger als die anstehenden formalen Änderungen der Verfassung könnte der psychologische Effekt dieses Volksbegehrens sein. Zum erstenmal in der Geschichte der modernen Türkei hat sich eine relative Mehrheit offiziell gegen die Machtstrukturen der ataturkistischen Oligarchen aus Militär, Justiz und Politik ausgesprochen.

Der Nimbus der Allmächtigkeit und Unantastbarkeit dieser Oligarchie hat einen nicht unerheblichen Kratzer bekommen. Dies kann als erster Schritt zu einer fundamentalen Revision der republikanischen Ära gewertet werden. Damit sind aber noch lange nicht alle psychologischen, politischen und rechtlichen Hindernisse auf dem Weg hin zu einer (Rück-)Besinnung auf die eigenen kulturellen Werte ausgeräumt. Das der "unblutige Bürgerkrieg" kurz-und mittelfristig anhalten wird, ist ersichtlich. Das Referendum-Ergebnis sollte darüber nicht hinwegtäuschen. Das Problem der Türkei ist eine Psychose historischen Ausmaßes, die sich aufgrund innerer und äußerer Dynamismen erst in jüngster Zeit dem öffentlichen Bewußtsein immer stärker aufdrängt.
 
Das Wallstreet Journal veröffentlichte Anfang Mai 2010 einen Artikel über diesen "unblutigen Bürgerkrieg". Für den Artikel führte der Wallstreet Journal Korrespondent Marc Champion auch ein Interview mit dem Chefredakteur der islamischen Zeitschrift Yeni Furkan, Sadeddin Ustaosmanoğlu. Vom Wallstreet Journal nicht abgedruckt, wurde das Interview von Yeni Furkan online veröffentlicht.  

Hier die komplette deutsche Übersetzung:

Wall Street Journal: Es wird gesagt die İsmailağa-Gemeinde würde sich aufgrund ihrer Bekleidung, der Ablehnung von Fernsehn und Internet und ihres konservativen Glaubens von den anderen Gruppen der Gesellschaft trennen. Ist es richtig zu sagen dass die İsmailağa-Gemeinde versucht sich von den säkularen Elementen der modernen Türkei abzusondert?
  
S. Ustaosmanoğlu: Um hier einmal den Satz "sich von anderen Gruppen der Gesellschaft trennt" als Ausgangspunkt zu nehmen. Wenn wir die gerade hundertjährige Vergangenheit der türkischen Gesellschaft betrachten, werden wir im Grunde nicht eine Trennung der İsmailağa-Gemeinde von den anderen Gesellschaftsgruppen sondern eher eine Trennung der anderen Gesellschaftsgruppen von dem Bedeutungsgehalt sehen den die Gemeinde repräsentiert... D.h. unsere Gemeinde legt ein Verhalten an den Tag der den Widerstand einer tausendjährigen traditionalen Struktur repräsentiert. Was das Thema Fernsehn und Internet betrifft; da es nicht möglich ist sich solchen aus dem Westen kommenden Stürmen zu widersetzen, kann nur von einem Widerstand gegen die Inhalte dieser Mittel die Rede sein; ein opponieren im technologischen Sinne wäre ohnehin Dummheit. Dann muß man aber auch im Blick behalten dass unsere Gemeinde eine Tasawwuf-Gemeinschaft ist. Denn der Lebensstandart solcher Gemeinden formiert sich nicht nach hedonistischen Weltanschauungen. D. h. es wird versucht die Dinge von ihren Beziehungen zum seelischen her zu kontrollieren. Das ist ein Thema, dass von säkularen Gesellschaften nicht gerade leicht verstanden werden kann. Worum es hier geht, ist nicht die Absonderung von säkularen Elementen, es geht darum aufzuzeigen dass die säkularen Grundsätze der menschlichen Natur entgegengesetz sind. Das ist es, was mit all seinen psychologischen und soziologischen Bedeutungsebenen erörtert werden muss.
  
WSJ: Wieviele Anhänger hat die İsmailağa-Gemeinde in der Türkei schätzungsweise? Hat sich diese Zahl in den letzten zehn Jahren in grundlegendem Maße erhöht oder abgenommen? Gab es seitens des Staates harte Eingriffe gegen die İsmailağa-Gemeinde?
  
S. Ustaosmanoğlu: Es ist nicht möglich genaue Zahlen zu nennen. Aber, ungefähre Berechnungen gehen von rund zehn Millionen aus. Von einer grundlegenden Erhöhung möchte ich nicht sprechen, in Übereinstimmung mit den fundamentalen Gesellschaftsstruktur ist ein stabiler Zuwachs offensichtlich. Bis heute gab es von seiten des Staates keine ernsthaft harten Eingriffe. Es gab nur ein höhnisches Gehabe, denn die Struktur der Gemeinde wurde vom Staat als unadäquat mit der offiziellen nach-republikanischen Politik betrachtet. Von Zeit zu Zeit gibt es aus staatlichen Bereichen heraus auch Haltungen in Richtung Ausnutzung. Diese sind dann in Form von populistischen Politmanöver fühlbar. 

WSJ: Sind die Anhänger der İsmailağa-Gemeinde für eine Regierung der Türkei durch die Scharia?
  
S. Ustaosmanoğlu: Ja... Aber, hier gilt es eine Sache zu klären. Diese Sache ist etwas das die gesamte türkische Gesellschaft angeht... Zunächst muss verstanden werden dass innerhalb der türkischen Gesellschaft eine ungeheure Begriffsverwirrung vorherrscht. Der Grund dafür ist das geistige Trauma welches durch die republikanischen Reformen ausgelöst wurde. Insbesondere nach der Schriftreform gleicht die Gesellschaft einem Fisch an Land, erlebt auch weiterhin dieses Trauma, was sie genau will oder nicht will kann sie nicht wirklich abschätzen. Unter Einbeziehung auch der Menschen die nicht zur Gemeinde gehören möchte ich sagen; solange die Menschen in diesem Lande sagen "ich bin Muslim" sind sie auch nicht ermächtigt zu sagen "ich will die Scharia nicht", aber dass dies in Wahrheit so ist, ist durch das Trauma in Vergessenheit geraten. Kurden, Türken und all die anderen ethnischen Gruppen, das sind Menschen die die osmanische Vergangenheit befürworten, erinnern sich nicht einmal daran dass die von den Osmanen angewendeten Gesetze auf die Schariagesetzgebung basierte. Eine Gesetzgebung die sogar aus aller Welt vetriebene Juden zufrieden stellte. Nun, trotz all der negativen Auswirkungen des Traumas erinnert sich die türkische Gesellschaft an seine Vergangenheit, wird sich auch weiter erinnern. Kurz; nicht nur die İsmailağa-Gemeinde, die gesamte Gesellschaft und darüber hinaus gar die Islamische Welt wendet sich ihrer natürlichen Veranlagung zu. Dieser Gang der Dinge kann nicht verhindert werden.

WSJ: İlhan Cihaner hatte im Jahr 2007 in Erzincan gegen nichtgenehmigte Koranschulen die Kinder im Vorschulalter unterrichteten ein Verfahren eröffnet. Aber, wie ich höre sind solche Schulen in der Türkei schon seit langem verbreitet und werden [inoffiziell] toleriert. Wenn es solche Schulen gibt, ist es wahr dass aus den umliegenden Dörfern Erzincans Kinder in diese Schulen gebracht wurden und die jüngsten dreieinhalb Jahre waren?
  
S. Ustaosmanoğlu: Sehen sie, ohne die soziologische Struktur der Türkei zu kennen ist es sehr schwierig solcherart Angelegenheiten zu analysieren. Solche Korankurse sind eine unabstreitbare Wirklichkeit der Türkei. Und; es ist nicht möglich diese Wirklichkeit zu beseitigen. Zumal, seit der Gründung der Republik, sich auch der Staat in einem furchtbaren Trauma befindet; der Staat mit dem Volk einfach nicht zum Frieden kommt. Daher verhält sich der Staat dilletantisch bei der Umsetzung dieser fundamentalen Wünsche. Das der Staat versucht solche Wünsche abzuwürgen und eigene Vorgaben aufzuzwingen macht auch deutlich dass der Staat keine in die tiefe gehende Ahnung vom Wesen dieser Wünsche hat. Doch sehen wir gerade jetzt wie sogar die Hauptsäule des Staates nähmlich die Republikanische Volkspartei (die von Atatürk gegründete Partei) von ernsthaften Einwendungen gegen Korankurse, das tragen des Schleiers bei Frauen oder den Turban der Männer abstand nimmt. Dem Wunsch des Volkes sich wieder seinem Naturell zuzuwenden, wird nicht mehr der Widerstand früherer Zeiten entgegengebracht... Die Behauptung wonach dreieinhalbjährige Kinder in diese Korankurse eingeschrieben wurden ist reine Komik... Wie kann denn ein Kind das gerade der Mutterbrust entwöhnt ist überhaupt den Konditionen einer solchen Einrichtung genügen? Da hat der Herr Staatsanwalt übertrieben!

WSJ: İlhan Cihaner beschuldigte die İsmailağa-Gemeinde auch damit eigene Imame auszubilden und somit die Autorität dafür zuständiger staatlicher Institutionen zu untergraben. Stimmt dies? Wenn dies zutrifft, wie lange hält dieser Zustand schon an?
  
S. Ustaosmanoğlu: Was sich der Herr Staatsanwalt hier eigentlich als erstes fragen müsste, ist doch die Frage warum ein säkularer Staat sich überhaupt anstrengt Geistliche auszubilden. Erstens; es ist falsch dass sich ein säkularer Staat so benimmt. Zweitens; der Grund für eine solche Anstrengung ist es die Gesellschaft in eine mit ihrer Natur nicht übereinstimmende Lebensweise zu manövrieren... Das Trauma macht sich auch hier bemerkbar. Desweiteren begegnen wir hier dem Widerstand der Gesellschaft, dem Wunsche sich einer mit ihrem Glauben übereinstimmenden Lebensweise zuzuwenden. Und schließlich hat eine Gemeinde auch nicht die Möglichkeit Geistliche in eine vom Staat kontrollierte Moschee zu befördern. Seit den ersten Jahren der Republik werden zwischen Gesellschaft und Staat solche und ähnliche Situationen erlebt. Aber wie ich schon sagte, derzeit ist eine enorme Flexibilität zu beobachten. 

WSJ: Sind die Ermittlungen in Erzincan nur eine von vielen die in den letzten Jahren eingeleitet wurden oder handelt es sich um die einzige? Wenn die Vorwürfe bezüglich der Gründung eigener Schulen und die Ausbildung eigener Geistlicher wahr ist, können sie erklären aus welchen Gründen die İsmailağa-Gemeinde ein solches Bedürfnis hat? Oder um es anders auszudrücken,  warum bedürfen Kinder im Vorschulalter einer Koran-Ausbildung? Warum werden staatliche Geistliche nicht als adäquat erachtet?
  
S. Ustaosmanoğlu: Ich denke dies wurde bei ihrer vorherigen Frage schon teilweise beantwortet... Was ich noch hinzufügen kann ist folgendes; diese Ermittlung ist, in ihren Ausmaßen, die erste Ermittlung. Die ihr zugrundeliegende Absicht hat nicht direkt was mit unserer Gemeinde zu tun... Über die Ergenekon-Sache trägt sie eher die Absicht einer [politischen] Attraktion gegen die Regierung. Als wir versuchten mit einem der insgesamt neun Verhafteten Personen aus unserer Gemeinde ein Interview zu führen, haben wir gesehen wie stark er eingeschüchtert wurde. Er sagte uns folgendes: "Die Leute die uns verhaftet haben, sagten uns "Das ist die Rache für Ergenekon. Bei euch haben wir angefangen, als nächstes sind die Fethullah-Leute dran". Ich denke die Sache ist ersichtlich! 

WSJ: Warum hat ihrer Meinung nach İlhan Cihaner im Jahr 2007 Ermittlungen gegen die İsmailağa-Gemeinde aufgenommen?
  
S. Ustaosmanoğlu: Aus Gründen die ich anführte. Die Türkei erlebt einen sehr speziellen Prozess. Weil die genannten Kräfte gemerkt haben dass ihre Autorität ins wanken geraten ist, nehmen sie Zuflucht zu verschiedenen Attraktionen.

 WSJ: İlhan Cihaner erwähnte in seinem Ermittlungsbericht den er nach Erzurum sandte, dass er gegen eine Reihe von Einrichtungen, darunter auch der Furkan-Verein, seine Ermittlungen nicht abschliessen konnte. In diesem Dokument wird auch darauf verwiesen dass weder gegen die nichtgenehmigten Bildungseinrichtungen noch gegen Familien die ihre Töchter nicht in die [staatliche] Schule schicken Schritte unternommen wurden. Ausserdem konnten die Ermittlungen zu Fragen des Finanzverkehrs nach Tschetschenien und Palästina, Ungereimtheiten bei diversen Ausschreibungen und den "propagandistischen" Tätigkeiten der İsmailağa-Gemeinde nicht abgeschlossen werden. Im selben Dokument wird auch ausdrücklich darauf verwiesen dass es keine Beweise bezüglich einer Gewaltbereitschaft und bewaffneten Organisation gibt. Was versuchte ihrer Meinung nach İlhan Cihaner mit all dem? 

S. Ustaosmanoğlu: Zunächst muß ich folgendes dazu erklären; der Furkan-Verein von dem hier die Rede ist, hat nichts zu tun mit der Zeitschrift Yeni Furkan, deren Hauptredakteur ich bin. Mit seiner Schelte bezüglich der Institutionen hat der Herr Staatsanwalt natürlich unrecht, zumal nach gültigem Recht auch er einen Hut tragen müßte aber dies nicht tut! Also in diesem Land sind einige Dinge dermaßen in der Vergangenheit zurückgeblieben dass sich niemand darum schert. Das sind alles Zeichen des Traumas von dem ich sprach. Aus diesem trubulenten Prozess geht hervor, dass der Staat zum Spielball von Banden geworden ist. Die damit einhergehenden negativen Erscheinungen gehen teilweise noch immer weiter. Um zur Tschetschenien, Palästina etc Frage zu kommen. Wie jetzt? Während die Russen in Tschetschenien, Israel in Palästina Muslime ermorden sollen sich die hiesigen Muslime nicht rühren? Dies ist eine Gewissensfrage, die mit Gesetzen und dergleichen nicht zu kontrollieren ist. Zudem kann man sich auch darüber streiten inwieweit die Beweise des Herrn Staatsanwalts wirkliche Beweise sind. Beim Thema der Ausschreibungsmanipulation handelt es sich um gemeine Vergehen. Wenn sich jemand eines Vergehens schuldig gemacht hat wird er dafür einstehen. Der Grund warum ich dies als gemeines Vergehen bezeichne ist folgender; solche Finanz-Sachen sind dafür geeignet in der Öffentlichkeit Verdacht zu erregen und werden deshalb immer als Garnitur benutzt. Cihaners ausdrücklicher Hinweis dass die Gemeinde nicht zur Gewalt neigt hat wohl folgenden Grund; wenn die Gemeinde in den Bereich der bewaffneten Organisation fällt, würde die Spezialstaatsanwaltschaft Erzurum den Fall übernehmen. Wahrscheinlich wird dies nur deshalb betont um zu verhindern das der Fall abgegeben werden muss. Aber mit der Anzeige wurde Cihaner der Fall durch den Spezialstaatsanwalt entzogen. Wie ich schon vorab darauf verwiesen habe, geht es in der Sache natürlich nicht um die İsmailağa-Gemeinde. Die eigentliche Sache bezieht sich auf die Geschehnisse um Ergenekon. Die Gemeinde wurde hierbei als leicht zu benutzende Bauern-Figur eingestuft. Aber, soweit wir dies nachvollziehen können sieht es so aus als wenn die Gegenseite [die AKP-Regierung] dieses Spiel verdorben hat. 

(Übersetzung: Algabal)

Keine Kommentare: