Unter dem Spot "Nazi-Hilfe für den Pascha" berichtete die liberal-islamische Tageszeitung "Vakit" über angebliche finanzielle Unterstützungen aus Deutschland für die putschistische Geheimorganisation Ergenekon. Türkischen Pressemeldungen zufolge haben deutsche Behörden auf Anfrage der ermittelnden Istanbuler Staatsanwaltschaft entsprechende Dokumente freigegeben. Diese sollen von der Staatsanwaltschaft in die dritte Anklageschrift aufgenommen werden. "Vakit" gelangte an Durchschriften von Überweisungsaufträgen.
Der türkische Blog "İstihbarat" veröffentlichte die Durchschriften der Kreis-und Stadtsparkasse Erding-Dorfen, die Geldüberweisungen der DVU München an den Aserbaidschanisch-Deutschen Freundschaftsverein e.V. angeben. Die Überweisungsaufträge beinhalten auch die Namen Dr. Gerhard Frey (Kontoinhaber) und Veli Küçük. Wahrscheinlich wurden die Beträge über den Aserbaidschanisch-Deutschen Freundschaftsverein an Veli Küçük weitergeleitet. General a.D. Veli Küçük gilt als "Nummer 1" der Geheimorganisation Ergenekon.
Der Gesamtbetrag der DVU-Überweisungen vom Februar 2004 an Veli Küçük beläuft sich auf 20.100 Euro. Über seine Kontakte nach Deutschland soll Veli Küçük zwischen 2001 und 2007 bis zu 1 Million Euro erhalten haben. Über welche deutschen Personen oder Organisationen Veli Küçük noch finanziell unterstützt wurde, geht aus den Pressemeldungen jedoch nicht hervor. Im Zusammenhang mit den "Deutschland-Kontakten" wird auch der Name Kemal Kerinçsiz genannt. Der Anwalt Kemal Kerinçsiz wurde Anfang 2008 ebenfalls im Zuge der Ermittlungen gegen die Geheimorganisation Ergenekon festgenommen.
Der Hauptanteil dieser Gelder soll bei türkischen Institutionen und Vereinen gelandet sein die den Ergenekon-Kreis unterstützen. Demnach habe allein die Türkisch-Orthodoxe Kirche 380.000 Euro aus Deutschland erhalten.
Die "deutsche Ergenekon-Sektion" habe auch Anschläge in Deutschland geplant. So sei das Kurdische Kulturzentrum Köln ins Visier der Ergenekonisten geraten. Ein Bombenanschlag gegen den kurdischen Verein sollte dem türkischen Geheimdienst in die Schuhe geschoben werden. Ein ähnlicher Anschlagsplan sei gegen das Armenisch-Orthodoxe Patriachat Istanbul gerichtet gewesen. Mit solchen Aktionen beabsichtigte die Geheimorganisation innertürkische Konflikte anzuheizen um einem Militärputsch den Weg zu ebnen.
Ergenekon: Antiquiert-Kemalistischer Ausbruchsversuch aus der westlichen Umklammerung
Die Geheimorganisation Ergenekon ging aus Kreisen kemalistischer Ultranationalisten hervor. Den harten Kern der Ergenekonisten bilden türkische Militärs und Geheimdienstler. Die Geheimorganisation wurde nicht zufällig nach dem Model der NATO-Geheimorganisation Gladio aufgebaut. Viele Ergenekon-Führungspersonen waren im Kalten Krieg selbst innerhalb der NATO-Geheimorganisation tätig. Strukturen, Taktiken und Strategien von Ergenekon fußen auf jahrzehntelange Erfahrungen innerhalb der NATO-Geheimorganisation.
Die erzkemalistischen Ergenekonisten fürchteten eine Revision der türkischen Verwestlichungspolitik in Richtung einer liberal-demokratischen Staatsverfassung. Als Hauptbetreiber dieser neuen Verwestlichungspolitik sehen die Ergenekonisten vor allem die USA und EU. Obwohl die Ergenekonisten selbst Produkte der kemalistischen Verwestlichungspolitik sind und keinesfalls etwa eine Reislamisierung der Türkei beabsichtigen, legen sie eine radikale anti-westliche Rhetorik an den Tag. Im Angesicht der westlichen Interventionen im Nahen Osten, wird diese Rhetorik besonders mit Begriffen und Symbolen aus dem anti-imperalistischen Befreiungskrieg (1919-1923) der Türkei gegen die Sieger-und Besatzungsmächte (England und Frankreich) des Ersten Weltkriegs gespeist. Da die Ergenekonisten auf keine zahlenmäßig nennenswerte erzkemalistische Bevölkerungsschicht zurückgreifen konnten, wurde somit dennoch eine breite Öffentlichkeit erreicht. So konnten die Ergenekonisten ihr Netz über das ganze Land spannen. Neben staatlichen Institutionen wurden Parteien und die Presse infiltriert. Akademiker und Halbintellektuelle arbeiteten ebenso für die Ziele der Ergenekonisten wie Mafiosi und Geschäftsleute.
Kaum eine Entwicklung symbolisiert den Übergang der modernen Türkei in eine neue Phase der Verwestlichung bzw. westlichen Hegemonie so deutlich wie der "Ergenekon-Prozess".
Die alten (kemalistischen) Kader sind einfach nicht mehr "tragfähig" für die Strategien des Westens. Die antiquierten Vorstellungen der Kemalisten von Nationalismus und Nationalstaat sind dem Westen nicht mehr zweckdienlich. USA und EU wollen vielmehr eine "verjüngt-moderne" Türkei, die sich fest an die liberal-demokratisch-kapitalistischen "Werte" des Westens orientiert. Auch diesmal, im Anschluß an die ersten Phase der Verwestlichungspolitik unter M. Kemal Atatürk und seinen Nachfolgern, soll die Türkei ein "Model" für andere muslimische Länder abgeben. Das solche Kreise wie die Ergenekonisten in dieser Planung keine Rolle mehr spielen, trifft vor allem das Ego dieser alteingesessenen Oligarchen.
Der große Schlag gegen das Ergenekon-Netzwerk wird deshalb unter den Fahnen der Demokratisierung, Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit geführt. Damit werden gleichzeitig quasi alle, also auch solche die selbst die Machenschaften der Ergenekon-Clique ablehnen, anti-westlichen Regungen und Bewegungen in der Türkei mundtot gemacht.
Derzeit sind jedenfalls die türkischen Neo-Westler eindeutig am "Drücker". Schließlich kamen die Befehle "von ganz oben". Schon kurz nach der ersten Verhaftungswelle gegen die Ergenekonisten konnte der einflußreiche Kolumnist Fehmi Koru, der stramm zur liberal-konservativen Regierungspartei von Erdoğan steht und sich besonders "tiefer" Verbindungen nach Washington rühmen darf, erklären dass der "Operationsbefehl" während eines offiziellen Staatsbesuchs bei einem Gespräch zwischen G. W. Bush und R. T. Erdoğan am 05. November 2007 im Weißen Haus "abgesegnet" wurde.
Zwar sind die eigentlichen Ergenekon-Strukturen weitgehend zerschlagen und auch die psychologische Kriegsführung gegen andere anti-westliche Gruppen zeigt Wirkung, doch schwebt der "Geist von Ergenekon" noch deutlich über der Türkei. Besonders die Rolle der Armee ist noch lange nicht geklärt.
Deutsch-Türkische Nachrichten
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