In Ürümqi demonstrierten am 05.07. (Sonntag) zunächst einige hundert Uiguren, hauptsächlich Studenten und junge Arbeiter, für eine Wiederaufnahme der behördlichen Untersuchungen und eine restlose Aufklärung der Übergriffe in Guangdong. Die Zahl der Demonstranten stieg schnell auf mehrere tausend an, diese blieben aber weiterhin friedlich. Dennoch geriet die chinesische Polizei in Panik und versuchte die Demonstration mit Wasserwerfern und Schlagstockeinsatz zu sprengen. Die Demonstranten griffen daraufhin die chinesische Polizei mit Steinen und Flaschen an. Als die Polizeikräfte die Kontrolle verloren kam es zu einem massiven Einsatz von Polizei-Spezialkräften und der Armee.
Chinesischen Polizisten und Soldaten schossen mit scharfer Munition in die Menge.
Offiziellen chinesischen Meldungen zufolge kamen bei den Straßenkämpfen 140 Menschen ums Leben. Rund 1000 Personen wurden verletzt. Hunderte Uiguren wurden festgenommen. Genaue Angaben über die Zugehörigkeit der Toten und Verletzten gab es zunächst nicht. Chinesische Medien zeigten ausschließlich Bilder von verletzten chinesischen Zivilpersonen und zerstörten chinesischen Einrichtungen.
Nach Angaben des in der Türkei ansässigen Exil-Uiguren Seyit Tümtürk vom Solidaritätsverein Ost-Turkestan (Doğu Türkistan Dayanışma Derneği), könne die Zahl der Toten (fast ausschließlich Uiguren) bis zu 500 betragen. Tümtürk berief sich bei einer Pressekonferenz auf jüngste Meldungen aus Ost-Turkestan sowie auf die langjährige Erfahrung mit offiziellen Zahlenangaben der chinesischen Regierung.
Den nur spärlich aus Ostturkestan und China eintreffenden Augenzeugenberichten zufolge habe sich der Einsatz chinesischer Sicherheitskräfte inzwischen zu einem Pogrom gegen die muslimische Bevölkerung ausgeweitet.
Mit Brachialgewalt in die chinesische Moderne
Aus der Äußeren Mongolei kommend siedelte sich das Turkvolk der Uiguren seit Mitte des 9. Jh. im heutigen Ostturkestan an. Die Islamisierung der, bis dahin weitgehend manichäischen und buddhistischen Uiguren, setze ab dem 10. Jh. ein. Bis zu den Mongoleneinfällen unter Dschingis Khan (13. Jh.) konnte sich das Uigurenreich als unabhängiger Faktor im mittelasiatischen Großraum behaupten. Nach dem Ende der Mongolenherrschaft (Yuan-Dynastie, 1279–1368) in China geriet Ost-Turkestan immer wieder unter mehr oder weniger starken chinesischen Einfluß. Von 1864 bis 1878 konnten die Muslime Ost-Turkestans unter Yakub Beg wieder eine staatliche Unabhängigkeit von China erringen. Das Emirat Yakub Begs stellte sich formell unter die Oberherrschaft des osmanischen Kalifats, konnte sich jedoch gegen die Angreifenden Russen und Chinesen nicht länger behaupten. 1884 wurde Ost-Turkestan unter dem Namen "Xinjiang" China angegliedert. Ab 1933 kämpften die Muslime Ost-Turkestans wieder für ihre Unabhängigkeit. Nach dem Aufstand von Kumul wurde die Unabhängigkeit Ostturkestans (1944) proklamiert. 1949 besetzte die Rote Armee ganz Ost-Turkestan. 1955 errichtete die kommunistische Zentralregierung die "Autonome Region Xinjiang". In den Jahren 1958, 1962, 1965, 1968 und 1997 kam es immer wieder zu bewaffneten Volksaufständen der muslimischen Bevölkerung gegen die chinesischen Besatzer. Allein in diesen Jahren fielen rund 250.000 Ostturkestaner den Repressivmaßnahmen der Chinesen zum Opfer. Insbesondere die einheimische Intellegenzia und der islamische Klerus wurde gezielt verfolgt und ermordet. Die einheimische Führung ging notgedrungen ins Exil.
Die einheimische muslimische Bevölkerung besteht zum größten Teil aus Uiguren, Kasachen, Kirgisen, Tadschiken und Hui (auch als Dunganen bezeichnet, ethnisch chinesische Muslime).
Genaue Bevölkerungszahlen sind kaum zu ermitteln. Im allgemeinen wird die muslimische Bevölkerung auf ca. 9 Millionen geschätzt. Bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 19 Millionen. Seit der Okkupation 1949/55 betreibt Peking eine massive Einwanderungs- und Assimilationspolitik zugunsten von Han-Chinesen.
Der national-kulturelle Kahlschlag der "geschützten Minderheiten" Ost-Turkestans greift in alle Lebensbereiche. Vom Kindergarten bis zur Universität wird allen ethnischen Minderheiten die chinesische Sprache aufgezwungen. Religiöse Einrichtungen gibt es kaum noch und jedes private Studium des Islam wird mit größter Brutalität unterdrückt. Von der Geburtenkontrolle ist besonders die muslimische Minderheit betroffen. Zwangssterilisationen und erzwungene Abtreibungen bei muslimischer Frauen gehören zum Alltag. In den traditionsreichen Städten Ostturkestans walzt der chinesische Modernismus alles nieder. Jahrtausendealte Altstädte wie in Kaschgar werden niedergestampft und durch Betongiganten nach amerikanischem Vorbild ersetzt.
Vom chinesischen Wirtschaftswunder spüren die Uiguren genauso wenig wie andere nationale Minderheiten. Die chinesische Administration verfolgt augenscheinlich eine Politik der sozio-ökonomischen Isolierung gegenüber "störrischen" Volksgruppen. Die Muslime Ostturkestans werden systematisch von allen gesellschaftlichen Machtpositionen ferngehalten. Nicht einmal in ihrer eigenen "Autonomen Region" kommen sie in einflußreiche politische Gremien.
Exil-Uiguren: Zwischen chinesischer Verfolgung
und westlicher Instrumentalisierung
Obwohl es seit den 1950er Jahren eine zahlenmäßig bedeutende ostturkestanische Exilgemeinde (insbesondere in den ehemaligen sowjet. Republiken Mittelasiens und der Türkei) gibt, konnte sich diese bisher kaum gehör verschaffen. Im Kalten Krieg wurden Teile der Exilgemeinde in Westeuropa unter NATO-Kommando gestellt. In Deutschland (München) bspw. errichteten die Amerikaner einen uigurischen Propagandasender gegen Peking. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wußte man in den NATO-Stäben lange nichts mehr mit diesen Uiguren anzufangen. Erst durch den rasanten wirtschaftlichen Aufstieg Chinas erinnerte man sich wieder an die "Fünfte Uigurische Kolonne".
Im Zeitalter des "Clash of Civilizations" sind die geostrategischen Planer in Washington und Brüssel darauf aus eine westlich indroktinierte uigurische Unabhängigkeitsbewegung aufzubauen. Der populärste Name dieses Projekts ist Rebiya Kadeer. Die 61-jährige Kadeer wird über die westlichen Medien gerne als geschäftstüchtige Emanze hochstilisiert. Prototypen wie Kadeer sollen irgendwann Ostturkestan von der chinesischen Moderne in die westliche Moderne überführen.
Bisher haben aber Auslandsorganisationen wie Kadeers "Uigurischer Weltkongress" kaum direkten Einfluß auf den Unabhängigkeitskampf in Ostturkestan. Zum einen ist die Kommunikation mit örtlichen Widerstandsgruppen äußerst schwierig, die Chinesen haben ein dichtes Spitzelnetz und kontrollieren auch die elektronischen Nachrichtennetze. Vor allem aber trauen die Muslime in Ostturkestan ihren Landsleuten im Ausland nicht. Besonders solchen wie der in den USA residierenden Kadeer. Zu eng ist die Verflechtung dieser Exilanten mit dem CIA. Die ostturkestanischen Widerstandsgruppen mußten in den letzten Jahren nur allzu oft am eigenen Leib erfahren, dass der gegen Peking gerichtete "Taktische Plan Ostturkestan" der CIA ihren elementaren Forderungen diametral entgegengesetzt ist. Für den Westen ist Ostturkestan lediglich eine Bauernfigur im "Greate Game".
Der Volksaufstand Ostturkestan ist spontan entflammt. Und ist mit diversen Exilgruppen und im besonderen mit solchen die direkt von westlichen Geheimdiensten geführt werden nicht vernetzt.
Die Straßenkämpfe in Ürümqi werden zurecht als größte Volkserhebung seit dem blutigen Massaker auf dem Tiananmen-Platz im Jahre 1989 bewertet. Trotz des alptraumhaft-gigantischen Unterdrückungsapparats der chinesischen Besatzer wird Ürümqi zum Fanal des Widerstands und der Unabhängigkeitsbewegung Ost-Turkestans werden.
Die Muslime in Ost-Turkestan werden aber weiterhin ganz auf sich allein gestellt sein. Die USA und ihre Verbündeten kämpfen in Afghanistan und Pakistan (beide Länder haben direkte Grenzen zu Ostturkestan) ums nackte Überleben. In dieser Situation wird man sich in den Schaltzentren der westlichen Kriegsführung hüten, die Dinge noch komplizierter zu machen als sie ohnehin schon sind.
Ernsthafte diplomatische Maßnahmen gegen Peking gab es nicht einmal nach den ebenfalls blutigen Ausschreitungen in Tibet vom Frühjahr 2008.
Deutsch-Türkische Nachrichten
Weitere Quellen:
TimesOnline: 140 killed in western China after Uighur riots and security crackdown (Mit ersten Filmaufnahmen und Fotos aus Ürümqi)
Guardian: China locks down western province after ethnic riots kill 140 (Mit TV-Reportage aus Ürümqi)
East Turkistan Information Center (Auch in deutscher Sprache)
Nachtrag (07.07.2009): Die wenigen Meldungen vom gestrigen Tag über eine allgemeine Pogrom-Stimmung gegen Uiguren bestätigen sich. So berichtet die FAZ von mehreren tausend Chinesen die bewaffnet Hieb- und Stichwaffen durch Ürümqi marschieren. In einem Bericht der Deutschen Welle wird von chinesischen "Bürgerwehren" gesprochen, die öffentlich zum Mord an Uiguren aufrufen.
Aus diesen Berichten ist zu schließen dass die chinesischen Behörden entweder die Kontrolle verloren haben und/oder gezielt die chinesische Bevölkerung gegen die Uiguren aufhetzen.
Inzwischen sickerten auch erste Meldungen durch, wonach es in den Städten Kaschgar und Hotan ebenfalls zu Zusammenstößen zwischen Uiguren und Chinesen gekommen ist. Dabei soll es mindestens 100 Todesopfer gegeben haben.
Amtliche chinesische Nachrichtenagenturen geben die Zahl der bei den Ausschreitungen getöteten Personen mit 156 an. Exil-Uigurische Organisationen gehen dagegen von mindesten 400 Todesopfern aus.
Eine harte Reaktion der "Internationalen Gemeinschaft" gegenüber Peking blieb - wie zu erwarten war - bislang aus.
Dazu folgender - aufschlußreicher - Bericht (Auszug) von EpochTimes-Deutschland:
Die Gewalt in Xinjiang empört die uigurische Bevölkerung, die in Übersee lebt. Zu ihnen gehört Wu'er Kaixi, der aus China geflohen war, nachdem er 1989 Studenten zu Demonstrationen auf dem Platz des Himmlischen Friedens geführt hatte.
Wu'er Kaixi lebt und arbeitet jetzt in Taiwan und erklärt, dass die Chinesische Kommunistische Partei den von der USA unterstützten Kampf gegen den Terror dazu benutzt, um die Uiguren Chinas zu vernichten.
„Insbesondere nach dem Vorfall des 11. September in den USA, als die Vereinigten Staaten China gebeten haben, sich den Verbündeten gegen Terrorismus anzuschließen, hat China die Methode entwickelt, alle uigurischen ethnischen Demonstrationen oder Proteste, selbst wenn es nur sehr friedliche Proteste waren, als terroristische Aktionen hinzustellen," erklärte Kaixi. „Unglücklicherweise ist die Tatsache, dass die Uiguren Moslems sind, einer der Gründe, warum die Welt ihnen wenig Aufmerksamkeit und Sympathie entgegenbringt."
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