Nur wenige Wochen nach dem für die AKP glimpflich ausgegangenen Parteiverbotsverfahren, tobt der Machtkampf zwischen den gemäßigten Islamisten um die Regierungspartei AKP und säkularistischen Machtzentren unvermindert weiter. Nun geht es allem Anschein nach verstärkt um wirtschaftspolitische Ansprüche und Verteilungskämpfe zwischen beiden Lagern. Im Mittelpunkt der olgarchischen Auseinandersetzung stehen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan und der einflußreiche Industrielle Aydın Doğan.
Während des mehrmonatigen Parteiverbotsverfahrens hatten Zeitungen, Radio- und Fernsehsender des Medientycoons Aydın Doğan eine masive propagandistische Kampange gegen die AKP losgetreten. Allen voran die Boulevardzeitung "Hürriyet", das Flagschiff des Medienimperiums Doğans, läßt keine Gelegenheit aus um die Regierungspartei zu attackieren. Nach dem Ende des "juristischen Putschversuchs" scheint Erdoğan nun den zwielichtigen Großindustriellen Doğan bestrafen zu wollen. Gleich bei zwei wirtschaftliche Großinvestitionen wurden der Doğan Holding seitens der Regierung Steine in den Weg gelegt. Zunächst wurde der Doğan Holding der Ankauf von weiteren Immobilien in der Nähe des konzerneigenen Istanbuler Hilton Hotels verwehrt. Dann soll Erdoğan dem Großindustriellen auch noch persönlich eine Beteiligung an Ölraffinerien in Mersin abgeschlagen haben. Daraufhin brachte die Doğan-Presse verstärkt Nachrichten über eine Verwicklung der Regierungspartei in die Veruntreuung von Spendengeldern durch den in Deutschland ansässigen Wohltätigkeitsverein Deniz Feneri e. V. in Umlauf.
Die eigentliche Wohltätigkeitsorganisation "Deniz Feneri" (Leuchtturm) ist aus dem Umfeld des sogenannten grünen Kapitals (Finanzstrukturen des national-religiösen politischen Sprektums) hervorgegangen. Durch eine enge Kooperation mit dem halboffiziellen TV-Sender der Regierungspartei, "Kanal7", erlangte der Wohltätigkeitsverein landesweite Popularität. Verantwortliche des gleichnamigen Vereins in Deutschland haben derzeit vor einem deutschen Gericht zugegeben etwa 18 Millionen Euro an Spendengeldern veruntreut zu haben. "Deniz Feneri" in der Türkei bestreitet jegliche juristische Verbindung zu Deniz Feneri e. V. in Deutschland. Engin Yılmaz, Vorsitzender des Wohltätigkeitsvereins in der Türkei, bestätigte jedoch gleichzeitig dass in einem Zeitraum von drei Jahren rund 7 Millionen Euro für wohltätige Zwecke von Deniz Feneri e. V. an "Deniz Feneri" in der Türkei überwiesen wurden. In den vergangenen Jahren waren dutzende ähnliche Fälle von Veruntreuungen und Schwarzgeldaffären aus den Kreisen des grünen Kapitals ans Licht gekommen.
Diese fatale Entwicklung hatte seit den 1970er Jahren der langjährige Führer des sogenannten politischen Islam in der Türkei, Necmettin Erbakan, mit seiner Forderung nach einer massiven Industrialisierung der Türkei losgetreten. In der Folgezeit setzte eine schleichende Protestantisierung breiter muslimischer Bevölkerungsschichten in der Türkei ein. Gefördert wurde diese Entwicklung auch durch die allgemeine liberale Wirtschaftspolitik des ehemaligen national-konservativen Minister- und Staatspräsidenten Turgut Özal.
Doch auch säkularistische Oligarchen wie Aydın Doğan profitierten von der Liberalisierung und Globalisierung der türkischen Wirtschaft. Und wie im Falle ihrer Konkurrenten aus dem national-religiösen Lager lief dabei vieles nicht gerade ethisch und juristisch einwadfrei ab.
Ein Beispiel des türkischen Raubtierkapitalismus ist die Oligarchenfamilie Uzan. Der Uzan-Clan erschlich sich mit unbotmäßigen Mitteln milliardenschwere Anteile an diversen Firmen. Banken an denen die Uzans beteiligt waren wurden regelrecht ausgepumpt. Als sich Geschäftspartner immer heftiger beschwerten, die finanzielle Existenz tausender Kleinanleger ruiniert wurde und Cem Uzan sich auch noch daran machte in die Tagespolitik einzusteigen (seine Partei erreichte 8% bei den Parlamentswahlen von 2002 und 3% bei den Wahlen von 2007), wurde sein Finanz- und Medienimperium von der Regierung Erdoğan zerschlagen.
Damals unterstützte Aydın Doğan das Vorgehen gegen den gefährlichen Konkurrenten maßgeblich. Im Gegenzug sicherte Erdoğan ihm "Straffreiheit" zu. Denn Aydın Doğan ist keinesfalls sauberer als Cem Uzan. In den ersten Jahren nach dem Regierungsantritt der AKP führte Aydın Doğan seine pragmatische Unterstützung für die Regierung Erdoğan weiter. Erdoğan erwies sich schließlich als neoliberaler Gesinnungsgenosse und Aydın Doğan schlug großen Profit durch die Zerschlagung der Uzan-Konzerne.
In einer Phase der jüngsten türkischen Politgeschichte, als nach dem "postmodernen" Militärputsch vom 28. Februar 1997 und der schweren Wirtschaftskrise (2001), welche durch die zivile Putschregierung um Bülent Ecevit und Mesut Yilmaz ausgelöst wurde, entstand ein polititisches Vakuum das unbedingt ausgefüllt werden mußte. Paradoxerweise entschieden sich die säkularen und pro-westlichen Machteliten für den Islamisten Erdoğan. Durch den Eingriff der Militärs gegen den politischen Islam und die damit verbundenen Repressalien gegen dessen führende Mitglieder gewann Erdoğan starke Sympathien innerhalb des national-konservativen Wahlvolks. Dabei half ihm auch seine erfolgreiche Regierungszeit als Istanbuler Bügermeister und sein Nimbus als unbestechlicher Volkstribun. Die säkularen Machteliten Ankaras sahen keinen anderen anderen Ausweg als Erdoğan zum Sicherheitsventil ihres oligarchistischen und pro-westlichen Regimes zu rekrutieren um einer Radikalisierung der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit entgegen zu wirken.
Freilich gingen beide Seiten einen wackeligen Kompromiss ein. Erdoğan verabschiedete sich von der islamistischen Rhetorik á la Erbakan und die säkulare Oligarchie ließ ihm dafür, besonders in der Wirtschaftspolitik, freie Hand. Die AKP konnte zunächst auch die akuten wirtschaftlichen und sozialen Brennpunkte eindämmen und somit das Regime konsolidieren. Gleichzeitig erfolgte durch die enge Anlehnung der Regierung Erdoğan an die EU eine politische und rechtliche Liberalisierung. Diese EU-Bindung, so das Kalkül Erdoğans, sollte ihm als politisches Polster gegen zukunftige Angriffe von Seiten der säkularen Machteliten dienen.
Der wackelige Kompromiss von 2002 geriet ins Taumeln als die national-religiöse Stammwählerschaft der AKP fundamentale Rechte einforderte. Ein halbherziger parlamentarischer Vorstoß der AKP im Kopftuchstreit führte zum Bruch mit der säkularen Oligarchie. Die AKP trat die Flucht nach vorne an und konnte bei den Parlamentswahlen vom 22. Juli 2007 noch einmal die absolute Mehrheit erringen.
In der knapp einjährigen Zeitspanne seit den Wahlen von 2007 verschärfte sich die politische Situation zusehends. Die wiederholten Drohungen der Militärs, das Parteiverbotsverfahren, die putschistischen Machenschaften des türkischen Gladio-Ablegers Ergenekon und schließlich die Angriffe des säkularen Kapitals auf die finanzielle Basis der Regierung Erdoğan, haben in der Türkei ein hochexplosives Kilma geschaffen.
Trotz der heftigen rhetorischen Angriffe der letzten Tage ist es aber fragwürdig ob sich der Machiavellist Aydın Doğan auf einen offen Schlagabtausch mit der Regierung Erdoğan einlassen wird. Schließlich weiss Doğan sehr gut, dass die Regierung ihn juristisch schnell ans Messer liefern kann. Auch hat Erdoğan die stärkere außenpolitische Unterstützung. USA und EU setzen in ihren Hegemonieplanungen für den Nahen Osten langfristig auf den gemäßigten Islam der Türkei. Die antiquierten Kemalisten sind für diese Planungen einfach zu unbrauchbar geworden. Überraschend ist das ungewöhnliche Vorpreschen Doğans aber allemal. Ein Anzeichen dafür, dass beide Seiten an einem kritischen Scheideweg angelangt sind.
Bericht: Deutsch-Türkische Nachrichten
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