Mittwoch, 24. September 2008

Der Sozialstaat wird gestürzt!

Die Republik Türkei ist ein im Geiste des Friedens der Gemeinschaft, der nationalen Solidarität und der Gerechtigkeit, die Menschenrechte achtender, dem Nationalismus Atatürks verbundener und auf den in der Präambel verkündeten Grundprinzipien beruhender demokratischer, laizistischer und SOZIALER RECHTSSTAAT. (Verfassung der Republik Türkei von 1982, 2. Paragraph)

In einem Urteil vom 26. Oktober 1988 mit der Aktennummer K.1988/33 XE beschreibt das Oberste Verfassungsgericht der Republik Türkei den Sozialstaat wie folgt:

«Der Auftrag des sozialen Rechtsstaats ist es die Schwachen vor den Starken zu schützen, um somit wirkliche Gleichberechtigung d.h. soziale Gerechtigkeit und das gesellschaftliche Gleichgewicht sicherzustellen. Das moderne Staatsverständnis erfordert dabei die Gestaltung des Sozialstaates und aller angeschlossenen Institutionen im Sinne der Verfassung. Der Schutz des Individuums durch den Rechtsstaat, wird über die Sicherstellung des sozialen Schutzes und der sozialen Gerechtigkeit ermöglicht… Der von der Verfassung als eine der tragenden Qualitäten der Republik festgeschriebene soziale Rechtsstaat beinhaltet auch den Begriff der sozialen Sicherheit. Dieser erfordert die staatliche Hilfestellung für arme und bedürftige Menschen um somit einen menschenwürdigen Lebensstandard zu ermöglichen. Somit werden die nötigen Grundlagen im Sinne der sozialen Gerechtigkeit und des Sozialstaates geschaffen.»

Derart in der Verfassung festgesetzt und recht fein interpretiert, ist die Republik Türkei kein Sozialstaat. Die Staatsanwälte der Republik Türkei können also beruhigt aufatmen. Wo wir in der Überschrift vom "Umsturz" sprechen und weiter ausführen werden wieso und weshalb dieser ansteht, ist nicht die Republik Türkei gemeint. Auch die Schweizer Staatsanwaltschaft braucht sich nicht berufen dünken; in dieser Schrift werden keine Anreize zum Terrorismus verlautbart. Dafür werden wir eine Reihe von schmerzlichen Feststellungen anbringen. Ziehen sie nutzen daraus.

Im gegenwärtigen Westen fußt die staatliche und gesellschaftliche Ordnung auf den fortgeschrittenen Kapitalismus, der populären Demokratie und des sozialen Wohlstands. Für jeden dieser Säulen hat der Westen große Opfer bringen müssen. Durch die Destillation zweier Weltkriege und einer langen Reihe historischer, ideologischer, gesellschaftlicher und politischer Erschütterungen ist der Sozialstaat hervorgegangen.

Der aus all diesen Erschütterungen erreichte Sozialstaat repräsentiert, wenn diese Bezeichnung hier erlaubt sei, den "Glückseeligen Aeon“ des Westens. Nun jedoch, nicht mal ohne ein halbes Jahrhundert überdauert zu haben, steht der Sozialstaat vor dem Sturz!

Beginnen wir mit dem Hinweis auf eine der Hauptcharakteristika des Westen: "Transformation"! Auf die selbe Weise wie Kirche und Monarchie transformiert und liquidiert wurden, so wurde auch die Arbeiterklasse und die ihr zugehörige Ideologie transformiert und liquidiert.

Dass der Erfahrungssatz der Kommunistischen Revolution in Russland die Idee des Sozialstaates motiviert hat und die Idee des Sozialstaates sogar als Alternative zum Kommunismus konzipiert wurde, ist ersichtlich. Mit der Bedingung dass diese sich nicht gegen bestehende Eigentumsrechte wenden und somit vom Kommunismus Abstand nehmen, schloss der Kapitalismus mit der Arbeiterklasse und der Demokratie einen Kompromiss unter dem Dach des Sozialstaates. Doch der Sozialstaat war keine mehr schlecht als recht hingenommene Wahl. Es handelte sich viel mehr um eine notwendige Entscheidung. Denn allein die "Industrialisierung", die damit verbundenen Arbeitsabläufe und die Lebensbedingungen innerhalb der Industrielandschaften, führten über die Familien unweigerlich zum Einbruch aller gesellschaftlichen Institutionen. Vor allem wurde der Widerstandswille gebrochen. In diese, von der Industrialisierung geschlagene, Bresche sprang eine so große Organisation wie der Staat ein, um die gesellschaftlichen Wunden zu heilen.

In einem Satz formuliert: Der Sozialstaat wurde zum Kompromiss zwischen Kapital, Arbeit und Politik. Sozialismus und die menschliche Neigung zur solidarischen Hilfestellung wurden umgewandelt in den Sozialstaat. Im Gegensatz zu der Feststellung des Denkers Salih Mirzabeyoglu, wonach das Recht ein "geronnener (geprägter) ethischer Ausdruck" ist, richtet sich im Westen die Ethik am Recht aus; "Was gesetzlich ist, das ist auch ethisch"! Daraus folgt dann unweigerlich, dass dem Menschen die angeborene Neigung zur ethischen Tat (das Verrichten guter Taten) negiert wird. Die "guten Taten" sind ja nun Chef-Sache des Sozialstaates.

Eines Tages hing ich im Züricher Hauptbahnhof fest. Für die Fahrkarte fehlten mir 10 Cent. Ojeh! Nicht nur in Zürich, überall in der Welt bekommt niemand eine Fahrkarte aus dem Automaten bei einem Fehlbetrag von 10 Cent.
Daran ist nichts ungewöhnlich, schließlich handelt es sich um eine Maschine! Also ging ich direkt zu einer Fahrkartenverkaufsstelle, d.h. zum Menschen… Herjeh, auch der Mitmensch gibt wegen des Fehlbetrags von 10 Cent keine Fahrkarte heraus. "Aber mein Herr, was ist denn dabei wenn sie den Fehlbetrag von 10 Cent aus ihrer eigenen Tasche begleichen?!" Die Antwort auf meine Frage: "Dies ist ein Ding der Unmöglichkeit, bitte bestehen sie nicht weiterhin auf diese Forderung!" Dieser ethisch degenerierte Typ, ist die moralisch einwandfreiste Person im Sozialstaate. Er hält sich an die Gesetze des Staates. Weiss er doch, dass ich aus eigenem verschulden in diese Position geraten bin. Denn schließlich zahlt mir der Sozialstaat ja das nötigste aus. Und er ist der Gutmensch schlechthin. Ist nicht wie unsereins auf Sozialhilfe angewiesen, hat Beschäftigung und Verdienst und zahlt dem Sozialstaat pünktlich seine Steuern. Seine gute Tat mir gegenüber hat er also schon längst verrichtet, letztendlich werden solche Tölpel wie ich von den Steuern solcher Gutmenschen finanziert.

"Das versteuerte Einkommen ist heilig und nicht einmal 10 Cent davon darf abgeführt werden!"
Während im Westen das Wort von der "Heiligkeit des versteuerten Verdienstes" in diesem strengen Sinne gebraucht wird, steht es im Sprachgebrauch von Staaten wie der Republik Türkei wie der berühmte Käfer auf dem Pferdeapfel!

Die den Sozialstaat im Westen hervorgebrachte Ideologie heißt "Sozialdemokratie". Und sozialdemokratische Parteien in Staaten wie der Republik Türkei haben mit dieser "Sozialdemokratie" nicht den geringsten Zusammenhang!

Ausführlicher: Im Angesicht der Probleme die von der Industrialisierung hervorgebracht wurden, zunächst in Übereinstimmung mit dem "Sozialismus“ stehend, entwickelten sich Differenzen in Bezug auf die Lösungswege. Die aus dieser Differenz hervorgegangene, sich vom Sozialismus abgespaltene und deshalb als "revisionistisch" kritisierte Ideologie wird als "Sozialdemokratie" bezeichnet. Beziehungsweise heute als "demokratische Linke" umschrieben. Und… Eine der gemeinsamen Grundsätze des Sozialstaates und der Sozialdemokratie ist es zwar die Existenz sozialer Klassen zu akzeptieren, doch auf keinen Fall spezifischen Bezug auf diese nehmend, die vorhandenen Unterschiede auf der Ebene einer staatsbürgerlichen Rhetorik einzufrieren. Weder sozialdemokratische Parteien noch Linksparteien sind Klassenparteien, vielmehr handelt es sich um libertäre Massenparteien. Nun gibt es in der Türkei zwar jede Menge Revisionismus sowie Lug und Raub in Hülle und Fülle, doch hat es jemals eine klassenbewußte Vergangenheit und eine echte sozialdemokratische Partei in der Türkei gegeben?! Nein!

Der Sozialstaat gründet sich auf die Idee, ausnahmslos für jeden ein Minimum an Lebensgrundlagen zu ermöglichen; das nationale Minimum… Weder obdachlose Menschen und nicht einmal Straßenköter und freilaufende Katzen darf es geben; wer nicht statistisch erfaßt ist darf nicht Sein und nichts Werden!


Zum Beispiel die Schweiz…

Der Ärmste in diesem Sozialstaate bin ich. Und sind solche, die wie ich den Status "Asylsuchende" innehaben, d.h. Flüchtlingskandidaten sind… Flüchtlinge haben kein Recht auf Arbeit. Zu Anfang und nur auf der Ebene einer Einführung, bekommen sie einen kostenlosen Sprachkurs um die Amtssprache des jeweiligen Kantons zu erlernen. "Asylsuchende" Kinder bekommen ebenfalls kostenlosen Zugang zur schulischen Grundausbildung. Der Schulbesuch ist zudem auch zwingend. Kinder die erfolgreich die schulische Grundausbildung absolvieren, bekommen ebenfalls kostenlos Zugang zur höheren Schulbildung oder zur Berufsausbildung, dürfen also Arbeiten. Personen die in diesen Status fallen sind dann auch sozialversichert; der Staat zahlt ihnen Prämien aus.

Jeder mit Flüchtlingsstatus lebt innerhalb der Flüchtlingscamps; zahlt weder für Strom noch für Wasser u.ä. Für Verpflegung und Bekleidung ist man selbst verantwortlich. Für diese Ausgaben erhält jeder Flüchtling wöchentlich 84 Franken. Im Übrigen ist diese finanzielle Unterstützung dermaßen ausgeklügelt, dass sich der Flüchtlingskandidat auch nicht einmal im Monat einen Ausflug mit dem Zug leisten kann… Apropos Zug… Ob wahr oder erfunden weiss ich nicht genau zu sagen; eine schöne Anekdote über Lenin: Zu seiner Flüchtlingszeit in der Schweiz, wurde er gefragt wie man gegen die hohen Bahnreisekosten am effektivsten protestieren könne. Darauf Lenin: "Boykottiert für einen Tag die Bahn." Daraufhin steigen die Protestler einen Tag lang nicht in die Züge ein, kaufen aber artig ihre Fahrkarten. Denn: "Der Staat darf dabei keinen Verlust machen!" "Mit unsicheren Kantonisten, ist keine Revolution möglich!" resigniert Lenin.

Ja, sogar mir, dem Ärmsten der Armen, ist das "nationale Minimum" sicher. Und weiter?! Des weiteren ist alles wie in der Türkei! Proportional sind die Abgründe zwischen den Reichsten und den Ärmsten dieselben wie in der Türkei. 80% des Volkseinkommens kontrollieren 300 Familien. Doch weil das "nationale Minimum" abgesichert ist, kommt es zu keinen nennenswerten sozialen Unruhen.

Sogar die Arbeitslosen erhalten auf Grundlage des "nationalen Minimums" ihr Einkommen, sind sozialversichert, haben Bildungsmöglichkeiten, bekommen eine ausreichende Gesundheitsfürsorge und Wohnungen gestellt…

Schön!

Doch woher stammt das Wasser auf diese Mühlen?!

Die Schweizer Banken lagern Guthaben im Wert von über 2,5 Billionen Dollar. Davon stammt die Hälfte aus dem Ausland. Eine veröffentlichte Statistik habe ich zwar noch nicht zu Gesicht bekommen, doch ist es sicher nicht allzu weit hergeholt zu behaupten dass ein Großteil dieses ausländischen Geldvermögens wiederum aus muslimischen Ländern stammt. Seinen Wohlstand finanziert der Westen aus solch armen(!) Ländern wie der Türkei.

Alleine die angehäuften Zinsen auf dem persönlichen Schweizer Bankkonto eines Ismet Inönü, würden ausreichen um mich und alle Türkeistämmigen Flüchtlinge in der Schweiz sowie sieben Nachfolgegenerationen finanziell abzusichern. Während es derart steht, gründet die Regierungspartei SVP ihre gesamte Wahlpropaganda für die anstehenden Parlamentswahlen auf eine generell fremdenfeindliche und im speziellen muslimfeindliche Grundlage. Das oben zu sehende Plakat gehört der SVP. Die weißen Schafe stoßen die schwarzen Schafe aus ihrer Mitte aus… Dabei schulden die weißen Schafe ihren Wohlstand den ausgestoßenen schwarzen Schafen!

Als Resümee…

1-Weil der Sozialstaat, nämlich die hinter diesem stehende Ideologie "umwandelbar" ist und nach nur knapp einem halben Jahrhundert sich im freien Fall befindet…
2-Weil der Sozialstaat, die natürlichen menschlichen Veranlagungen vom Menschen genommen und institutionalisiert, d.h. entmenschlicht hat…
3-Weil der Sozialstaat, nicht berücksichtigt dass die eigentlichen Fragen der menschlichen Existenz sich erst dann unweigerlich einstellen wenn der Mensch materiell (über-)gesättigt wurde…
4-Weil der Sozialstaat, keine Lösungen für die sozialen Probleme finden kann die der soziale Wohlstand unweigerlich mit sich bringt…
5-Weil der Sozialstaat, aufgrund des "globalen Terrorismus" von Tag zu Tag weniger in der Lage ist die nötigen Rohstoffe aus dem Ausland zu beziehen…
6-Weil der Sozialstaat, aufgrund des "globalen Terrorismus" von Tag zu Tag immer stärker dazu gezwungen wird, seine Ressourcen für die Sicherheit auszugeben…
7-Weil der Sozialstaat, sein "nationales Minimum" nicht mit den eigenen Rohstoffen unterhält, d.h. weil er sich letztendlich an überkommene kolonialistische Mentalitäten anlehnt wird er zusammenbrechen…

Diese Punkte können noch beliebig weitergeführt und detailliert werden…

Können sie sich vorstellen wie eine Gesellschaft, die mit diesen 7 Punkten infiziert ist, im Angesicht einer wirklich ernsthaften Problemstellung sich selbst auffressen wird?!

Ja, der Sozialstaat wird zusammenbrechen!

Der SVP-Parteichef Herr Blocher kann die oben angeführten Feststellungen eines "schwarzen Schafes" als "Gefahr" einordnen. Dennoch hat der Westen eine Chance; denn der Westen beherbergt auch solch schöne Menschen wie Micheline Calmy-Rey…

Mustafa Saka: Sosyal Devlet, Yıkılacak Elbet!
22. September 2007
Zeitschrift Aylik, Nr. 37
mim.saka@googlemail.com


Übersetzung: Algabal

Mittwoch, 10. September 2008

Erdoğan vs Doğan: Schlammschlacht unter Oligarchen

Nur wenige Wochen nach dem für die AKP glimpflich ausgegangenen Parteiverbotsverfahren, tobt der Machtkampf zwischen den gemäßigten Islamisten um die Regierungspartei AKP und säkularistischen Machtzentren unvermindert weiter. Nun geht es allem Anschein nach verstärkt um wirtschaftspolitische Ansprüche und Verteilungskämpfe zwischen beiden Lagern. Im Mittelpunkt der olgarchischen Auseinandersetzung stehen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan und der einflußreiche Industrielle Aydın Doğan.

Während des mehrmonatigen Parteiverbotsverfahrens hatten Zeitungen, Radio- und Fernsehsender des Medientycoons Aydın Doğan eine masive propagandistische Kampange gegen die AKP losgetreten. Allen voran die Boulevardzeitung "Hürriyet", das Flagschiff des Medienimperiums Doğans, läßt keine Gelegenheit aus um die Regierungspartei zu attackieren. Nach dem Ende des "juristischen Putschversuchs" scheint Erdoğan nun den zwielichtigen Großindustriellen Doğan bestrafen zu wollen. Gleich bei zwei wirtschaftliche Großinvestitionen wurden der Doğan Holding seitens der Regierung Steine in den Weg gelegt. Zunächst wurde der Doğan Holding der Ankauf von weiteren Immobilien in der Nähe des konzerneigenen Istanbuler Hilton Hotels verwehrt. Dann soll Erdoğan dem Großindustriellen auch noch persönlich eine Beteiligung an Ölraffinerien in Mersin abgeschlagen haben. Daraufhin brachte die Doğan-Presse verstärkt Nachrichten über eine Verwicklung der Regierungspartei in die Veruntreuung von Spendengeldern durch den in Deutschland ansässigen Wohltätigkeitsverein Deniz Feneri e. V. in Umlauf.

Die eigentliche Wohltätigkeitsorganisation "Deniz Feneri" (Leuchtturm) ist aus dem Umfeld des sogenannten grünen Kapitals (Finanzstrukturen des national-religiösen politischen Sprektums) hervorgegangen. Durch eine enge Kooperation mit dem halboffiziellen TV-Sender der Regierungspartei, "Kanal7", erlangte der Wohltätigkeitsverein landesweite Popularität. Verantwortliche des gleichnamigen Vereins in Deutschland haben derzeit vor einem deutschen Gericht zugegeben etwa 18 Millionen Euro an Spendengeldern veruntreut zu haben. "Deniz Feneri" in der Türkei bestreitet jegliche juristische Verbindung zu Deniz Feneri e. V. in Deutschland. Engin Yılmaz, Vorsitzender des Wohltätigkeitsvereins in der Türkei, bestätigte jedoch gleichzeitig dass in einem Zeitraum von drei Jahren rund 7 Millionen Euro für wohltätige Zwecke von Deniz Feneri e. V. an "Deniz Feneri" in der Türkei überwiesen wurden. In den vergangenen Jahren waren dutzende ähnliche Fälle von Veruntreuungen und Schwarzgeldaffären aus den Kreisen des grünen Kapitals ans Licht gekommen.

Diese fatale Entwicklung hatte seit den 1970er Jahren der langjährige Führer des sogenannten politischen Islam in der Türkei, Necmettin Erbakan, mit seiner Forderung nach einer massiven Industrialisierung der Türkei losgetreten. In der Folgezeit setzte eine schleichende Protestantisierung breiter muslimischer Bevölkerungsschichten in der Türkei ein. Gefördert wurde diese Entwicklung auch durch die allgemeine liberale Wirtschaftspolitik des ehemaligen national-konservativen Minister- und Staatspräsidenten Turgut Özal.

Doch auch säkularistische Oligarchen wie Aydın Doğan profitierten von der Liberalisierung und Globalisierung der türkischen Wirtschaft. Und wie im Falle ihrer Konkurrenten aus dem national-religiösen Lager lief dabei vieles nicht gerade ethisch und juristisch einwadfrei ab.

Ein Beispiel des türkischen Raubtierkapitalismus ist die Oligarchenfamilie Uzan. Der Uzan-Clan erschlich sich mit unbotmäßigen Mitteln milliardenschwere Anteile an diversen Firmen. Banken an denen die Uzans beteiligt waren wurden regelrecht ausgepumpt. Als sich Geschäftspartner immer heftiger beschwerten, die finanzielle Existenz tausender Kleinanleger ruiniert wurde und Cem Uzan sich auch noch daran machte in die Tagespolitik einzusteigen (seine Partei erreichte 8% bei den Parlamentswahlen von 2002 und 3% bei den Wahlen von 2007), wurde sein Finanz- und Medienimperium von der Regierung Erdoğan zerschlagen.

Damals unterstützte Aydın Doğan das Vorgehen gegen den gefährlichen Konkurrenten maßgeblich. Im Gegenzug sicherte Erdoğan ihm "Straffreiheit" zu. Denn Aydın Doğan ist keinesfalls sauberer als Cem Uzan. In den ersten Jahren nach dem Regierungsantritt der AKP führte Aydın Doğan seine pragmatische Unterstützung für die Regierung Erdoğan weiter. Erdoğan erwies sich schließlich als neoliberaler Gesinnungsgenosse und Aydın Doğan schlug großen Profit durch die Zerschlagung der Uzan-Konzerne.

In einer Phase der jüngsten türkischen Politgeschichte, als nach dem "postmodernen" Militärputsch vom 28. Februar 1997 und der schweren Wirtschaftskrise (2001), welche durch die zivile Putschregierung um Bülent Ecevit und Mesut Yilmaz ausgelöst wurde, entstand ein polititisches Vakuum das unbedingt ausgefüllt werden mußte. Paradoxerweise entschieden sich die säkularen und pro-westlichen Machteliten für den Islamisten Erdoğan. Durch den Eingriff der Militärs gegen den politischen Islam und die damit verbundenen Repressalien gegen dessen führende Mitglieder gewann Erdoğan starke Sympathien innerhalb des national-konservativen Wahlvolks. Dabei half ihm auch seine erfolgreiche Regierungszeit als Istanbuler Bügermeister und sein Nimbus als unbestechlicher Volkstribun. Die säkularen Machteliten Ankaras sahen keinen anderen anderen Ausweg als Erdoğan zum Sicherheitsventil ihres oligarchistischen und pro-westlichen Regimes zu rekrutieren um einer Radikalisierung der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit entgegen zu wirken.

Freilich gingen beide Seiten einen wackeligen Kompromiss ein. Erdoğan verabschiedete sich von der islamistischen Rhetorik á la Erbakan und die säkulare Oligarchie ließ ihm dafür, besonders in der Wirtschaftspolitik, freie Hand. Die AKP konnte zunächst auch die akuten wirtschaftlichen und sozialen Brennpunkte eindämmen und somit das Regime konsolidieren. Gleichzeitig erfolgte durch die enge Anlehnung der Regierung Erdoğan an die EU eine politische und rechtliche Liberalisierung. Diese EU-Bindung, so das Kalkül Erdoğans, sollte ihm als politisches Polster gegen zukunftige Angriffe von Seiten der säkularen Machteliten dienen.

Der wackelige Kompromiss von 2002 geriet ins Taumeln als die national-religiöse Stammwählerschaft der AKP fundamentale Rechte einforderte. Ein halbherziger parlamentarischer Vorstoß der AKP im Kopftuchstreit führte zum Bruch mit der säkularen Oligarchie. Die AKP trat die Flucht nach vorne an und konnte bei den Parlamentswahlen vom 22. Juli 2007 noch einmal die absolute Mehrheit erringen.

In der knapp einjährigen Zeitspanne seit den Wahlen von 2007 verschärfte sich die politische Situation zusehends. Die wiederholten Drohungen der Militärs, das Parteiverbotsverfahren, die putschistischen Machenschaften des türkischen Gladio-Ablegers Ergenekon und schließlich die Angriffe des säkularen Kapitals auf die finanzielle Basis der Regierung Erdoğan, haben in der Türkei ein hochexplosives Kilma geschaffen.

Trotz der heftigen rhetorischen Angriffe der letzten Tage ist es aber fragwürdig ob sich der Machiavellist Aydın Doğan auf einen offen Schlagabtausch mit der Regierung Erdoğan einlassen wird. Schließlich weiss Doğan sehr gut, dass die Regierung ihn juristisch schnell ans Messer liefern kann. Auch hat Erdoğan die stärkere außenpolitische Unterstützung. USA und EU setzen in ihren Hegemonieplanungen für den Nahen Osten langfristig auf den gemäßigten Islam der Türkei. Die antiquierten Kemalisten sind für diese Planungen einfach zu unbrauchbar geworden. Überraschend ist das ungewöhnliche Vorpreschen Doğans aber allemal. Ein Anzeichen dafür, dass beide Seiten an einem kritischen Scheideweg angelangt sind.

Bericht: Deutsch-Türkische Nachrichten